Lange bevor ein neues Werk entsteht, simulieren Siemens-Experten die Fabrik im Computer. Diese 3D-Modelle enthalten Tausende von Parametern und berechnen daraus zum Beispiel die optimale Anordnung der Maschinen, den Transportweg von Bauteilen, die Risiken einer Standortverlagerung oder sogar die Rückenbelastung eines Arbeiters.
Avatare als Testpersonen: Im virtuellen Abbild ihres künftigen Produktionsstandorts können Auftraggeber die gesamten Arbeitsabläufe optimieren – hier im Siemens-Motorenwerk im chinesischen Tianjin
Acht Fabrikhallen, jede so groß wie ein Fußballfeld und so hoch wie ein fünfstöckiges Gebäude – das Motorenwerk der Siemens Electrical Drives Ltd. (SEDL) im chinesischen Tianjin, zwei Autostunden östlich von Peking, kann sich sehen lassen. Mannshohe Elektromotoren werden hier gebaut, Windrad-Generatoren im Kleinlaster-Format, Schaltschränke sowie Steuerungsanlagen. Tianjin soll zum wichtigsten chinesischen Elektromotoren-Standort ausgebaut werden. Eine große Herausforderung für die Fabrikplaner: Praktisch aus dem Nichts musste das Riesenwerk in nur zweieinhalb Jahren geplant und erbaut werden. Einen solchen Produktionsstandort konstruiert man nicht mal eben auf dem Reißbrett.
Angesichts der Größe des Unterfangens wurde die Abteilung Production Processes (PP) von Siemens Corporate Technology (CT) in München eingeschaltet. Deren Spezialität ist es, Fabriken dreidimensional im Computer entstehen zu lassen. Noch ehe Bagger anrücken, gleiten bereits Bauteile auf fertigen Fließbändern durch das virtuelle Bild. Das Ziel ist klar: Je detaillierter und realistischer man eine Fabrik in der Planungsphase abbilden kann, desto früher lassen sich Fehler erkennen und vermeiden.
Seit etwa 20 Jahren beschäftigen sich die Siemens-Spezialisten mit der "Digitalen Fabrik". Dabei haben sie vor allem eines gelernt: Die schönsten digitalen Werkzeuge sind nutzlos, wenn der Planer die Arbeitsabläufe der Fabrik nicht im Detail verstanden hat. "Man muss zunächst den gesamten Planungsprozess durchdrungen haben, ehe man damit beginnen kann, virtuelle Werkzeuge einzusetzen", sagt Dr. Bernd Korves, Leiter des Kompetenzzentrums für Produktionsnetze und Fabrikplanung bei CT PP. Es geht um den gesamten Lebenszyklus vom Design bis zur Fertigung – Product Lifecycle Management (PLM) heißt das in der Fachsprache.
Das Ergebnis des Designprozesses, das Digitale Produkt, ist die Brücke zur Digitalen Fabrik ( Produktentwicklung). "In einer intensiven Verzahnung dieser beiden Prozessblöcke liegen noch große Potenziale", betont Dr. Albert Gilg, Leiter des Kompetenzzentrums für virtuelles Design bei CT, "denn das Produktdesign entscheidet letztlich darüber, ob man sich Hürden schafft oder die Effizienz der Fertigung verbessert."
Kopplung von Wirklichkeit und Simulation: Mit der SmartAutomation von Siemens A&D können neue Komponenten mit sämtlichen Parametern am virtuellen Modell (links) getestet und in die bestehende reale Anlage (rechts) eingefügt werden – beispielsweise ein Roboterarm zur Qualitätskontrolle in einer Abfüllanlage (Mitte)
Die Designdaten sind der Startpunkt für die intensive Analyse der künftigen Produktion – eine Kernaufgabe der Experten. Ermittelt wird, welche Produktionsschritte nötig sind, welche Arbeitsplätze man dafür braucht, wie das Layout der Fabrik auszusehen hat und mit welchen Arbeitsplänen die Produktion gefahren wird. Gemeinsam mit den jeweiligen Siemens-Bereichen erarbeiten die Planer oft mehrere Alternativen. Entscheidungsvorschläge werden als dreidimensionale Fabrik im Computer visualisiert und mit Hilfe einer Materialfluss-Simulation durchgespielt, wobei die Experten so weit wie möglich auf Objekte aus digitalen Bibliotheken zurückgreifen.
Mit dem virtuellen Modell können Planungsteams weltweit auf Knopfdruck in die chinesischen Fabrikhallen hineinfliegen (Bild links). Große graue Röhren sind zu sehen: die Statoren der Motoren. Daneben stehen Avatare, simulierte Menschen, die Kupferdrähte ergreifen und in die Röhren einbauen. Mit dem virtuellen Flug können die Auftraggeber bei SEDL schnell erkennen, ob an den einzelnen Arbeitsplätzen ausreichend Platz vorhanden ist, um etwa die großen Motoren zu rangieren. Änderungswünsche lassen sich jederzeit einbauen und ihre Auswirkungen sofort im bewegten Bild erkennen. Im Falle Tianjin war eine besondere Herausforderung, den Standort virtuell über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren wachsen zu lassen, die Produktionskapazitäten nach und nach auszubauen und flexibel eine sich verändernde Nachfrage zu berücksichtigen.
Der richtige Abstraktionsgrad. Die Kunst der Simulation besteht vor allem darin, einzuschätzen, an welcher Stelle detaillierte Informationen überhaupt nötig sind. "Es ist ein Anfängerfehler zu versuchen, die Realität 1:1 abzubilden", sagt Korves. Und es ist unwirtschaftlich, weil viel zu aufwändig und zu teuer. Den richtigen Grad der Abstraktion zu finden, ist erfolgsentscheidend: "Man muss bei einer Materialfluss-Simulation zur Layoutbestimmung nicht bis ins letzte Schräubchen simulieren, bei der Simulation einer komplexen Montage allerdings schon", erklärt Korves.
Bei einem anderen Projekt mit Siemens VDO musste Korves tatsächlich in die Tiefe gehen. Für die Fertigung eines neuen Automobil-Cockpits sollten Fertigungszellen en detail dargestellt werden, um die Ergonomie der Arbeitsplätze zu simulieren. CT setzte dafür Software der Firma UGS ein, die nun als Siemens PLM Software (A&D PL) Teil des Bereichs Automation and Drives (A&D) ist ( Product Lifecycle Management). Mit Hilfe standardisierter Kennwerte erfasst diese Software Größe und Statur des Arbeiters oder auch die Wiederholungszahl seiner Bewegungen. So konnten die Arbeitsplätze optimiert werden – etwa die Höhe der Werkbank oder die Reichweite der Arme.
Virtuelle Modelle werden heute zum großen Teil aus Bibliotheken zusammengestellt. Die Leistung des CT-Teams besteht darin, für jede Anwendung die beste Lösung zu schaffen – mitunter auch mit eigenen Bedienoberflächen. Oder eigene Simulationsprogramme zu schreiben, wenn für bestimmte Fragestellungen keine Software-Lösungen existieren. So entwarf CT in Kooperation mit der Technischen Universität München das Planungswerkzeug Plant Calc. Die Software kann Produktionsstandorte miteinander vergleichen – mit einer systematischen Bewertung von Alternativen unter Berücksichtigung aller Planungsunsicherheiten. So hat CT für ein norddeutsches Siemens-Werk ermittelt, dass ein Ausbau der Produktion in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen wirtschaftlicher sein kann als eine Verlagerung nach Osteuropa. Zwar sind die Lohnkosten in Deutschland höher, doch mit all seinen Optimierungsmöglichkeiten bot der Standort Deutschland die wirtschaftlichste Alternative.
Testen ohne Realitätsverlust. Dass Wirklichkeit und virtuelle Welt noch stärker verschmelzen können, zeigt A&D. Mit der so genannten SmartAutomation stehen in Nürnberg und Karlsruhe zwei Forschungsanlagen, mit denen sich künftige Automatisierungslösungen ausarbeiten lassen – real und virtuell. In Nürnberg haben die Forscher eine Abfüllanlage für Flaschen installiert, in Karlsruhe eine verfahrenstechnische Chemie-Anlage. Damit lassen sich erstmals neue Ideen schnellstmöglich auf einer echten Anlage umsetzen. Derzeit wird beispielsweise ein Roboter aufgebaut, der einzelne Flaschen im Vorbeifahren greift und sie der Qualitätskontrolle übergibt. Nach erfolgter Prüfung werden sie wieder millimetergenau in den Strom vorbeiziehender Flaschen eingefügt.
Selbstverständlich wurde diese Erweiterung zunächst virtuell geplant und getestet. Die A&D-Entwickler haben den virtuellen Roboter passgenau am Bildschirm in die reale Anlage eingefügt. Verschraubungen, Abmessungen und die Strom-Anschlüsse, die Datenkommunikation oder die benötigte Druckluft wurden vor der Realisierung verifiziert. Sogar die Betriebsparameter des Roboters spielten die Forscher vorab in einer Echtzeit-Simulation durch. Die Eingangsdaten für den virtuellen Flaschenpicker stammten dabei aus der realen Anlage. "Besonders faszinierend ist, dass sich Wirklichkeit und Simulation mit der SmartAutomation-Anlage direkt koppeln lassen", fasst der Projektleiter Bernd Opgenoorth zusammen.
Trotz der Leistungsfähigkeit der Anlagensimulation besteht aber weiterer Optimierungsbedarf – insbesondere was die Durchgängigkeit des Planungsprozesses betrifft. Denn die Daten der gesamten Prozesskette wandern keineswegs nahtlos vom ersten Designentwurf bis zum vollständigen Fabrikmodell. Häufig müssen sie per Hand von einem Programm in das nächste übertragen werden. Von der 3D-Zeichnung in die Visualisierungs-Software oder aus dem virtuellen Modell in die Sprache der computergesteuerten CNC-Fräsmaschine. "Es gilt, die Brüche zu überwinden und den Transport der Daten vom Anfang bis zum Ende zu automatisieren", sagt Opgenoorth. Daran arbeiten seine Forscherkollegen unter anderem mit ihren neuen Partnern von A&D PL.
Lego für Fabriken. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt SmartFactoryKL unter der Regie des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken. Das Konsortium aus Firmen und Instituten arbeitet ebenfalls an einer realen Produktionsanlage im kleinen Maßstab – auch Siemens A&D ist von Anfang an Gründungsmitglied und Förderer der SmartFactory. Hier wird die Produktion ebenfalls in der virtuellen Welt durchgespielt. Die Fabrik soll unter anderem zeigen, wie sich Komponenten verschiedener Hersteller kombinieren lassen. Die Idee ist visionär: In Zukunft könnten sich Fabriken wie in einer Legostein-Welt aus Standardmodulen aufbauen lassen. Das setzt voraus, dass Module verschiedener Produzenten über Standardschnittstellen verfügen.
Damit nicht genug: Nach und nach sollen alle Anlagenteile mit Funketiketten ausgestattet werden ( Die grenzenlose Fabrik). Damit wären eine automatische Inventur und eine genaue Standortbestimmung der Maschinen möglich. Das erleichtert den Umbau oder die Erweiterung einer Fabrik. Die aktuellen Maschinenstandorte könnte man in das virtuelle Modell einspielen und auf diese Weise simulieren, wie sich neue Geräte am besten integrieren lassen. "Im virtuellen Modell einer Fabrik steckt enorm viel Arbeit und eine ebenso große Menge an Information. Es ist absolut sinnvoll, diese Vielfalt an Daten mehrfach zu nutzen", sagt Eric Pohlmann, Projekt-Koordinator am DFKI.
Tim Schröder