Wednesday, April 01, 2009

Unser Marsch in die chinesische Welt

Vor dem Gipfel

Unser Marsch in die chinesische Welt

Von Mark Siemons, Peking

Börse in Schanghai: Ist China besser für die Tücken des Kapitalismus gerüstet?

Börse in Schanghai: Ist China besser für die Tücken des Kapitalismus gerüstet?

01. April 2009 Die Idee, nicht länger den Dollar als internationale Reservewährung zu verwenden, sondern eine universelle, vom Internationalen Währungsfonds gesteuerte Leitwährung, ist nicht neu. Zuletzt hatte sie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz 2004 in seinem Buch „Making Globalisation Work“ vertreten. Eine solche Initiative, schrieb er, „würde die Probleme der Entwicklungsländer zwar nicht beseitigen, wäre jedoch ein großer Schritt nach vorn, sowohl im Sinne weltwirtschaftlicher Stabilität als auch im Sinne globaler Gerechtigkeit“. Was aber bedeutet es, wenn sich inmitten der Weltwirtschaftskrise und kurz vor dem morgen stattfindenden G-20-Treffen nun China diesen Vorschlag zu eigen macht?

Offensichtlich läge die Einführung einer solchen Weltwährung im chinesischen Interesse. Unmittelbar, weil Peking eine Abwertung seiner vornehmlich in Dollar angelegten Währungsreserven fürchtet, wenn Amerika aus innenpolitischen Gründen nun mehr Geld druckt. Und langfristig insofern, als mit der Relativierung des Einflusses, den Amerika bisher über den Dollar auf die Welt ausübt, eine stärkere Gewichtung von Brasilien, Russland, Indien und vor allem China, den nach ihren Initialen so genannten Bric-Staaten, einherginge. Peking hat angekündigt, sich auf dem Londoner Gipfel vor allem für eine stärkere Berücksichtigung der Schwellen- und Entwicklungsländer in den globalen Institutionen einsetzen zu wollen. Manche Beobachter haben das schon als erste machtvolle Äußerung eines latenten chinesischen Wirtschaftsnationalismus interpretiert, der sich von Deng Xiaopings früherer Mahnung, den Kopf nicht zu weit aus dem Fenster zu strecken, zunehmend entferne.

Amerika könnte profitieren

Doch eine solche Deutung verkehrt die antihegemoniale Pointe des Leitwährungsvorschlags in ihr Gegenteil. Die Idee besteht ja gerade darin, das globale Finanzsystem dadurch zu stabilisieren, dass es von den inneren Konflikten und Widersprüchen einer einzelnen Macht unabhängiger wird. Das könnte sogar Amerika selbst zugutekommen. Denn bisher erleichterte ihm die Fülle an eigenen Währungsreserven das Schuldenmachen, die Finanzierung immer neuer Blasen, was es aber schwerer machte, die eigene Währung noch zu kontrollieren.

Die besondere Eigenart des chinesischen Vorstoßes besteht also nicht darin, dass da eine Macht willkürlich ihre Interessen gegen die von anderen in Stellung brächte, sondern dass Peking sich zum Sprecher eines ökonomischen Universalismus macht, der im Finanzwesen von vornherein angelegt war, sich bislang aber immer bloß unter der Dominanz einzelner Staaten und Kulturkreise entfaltete. „Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt gibt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld“, schrieb der deutsche Soziologe Georg Simmel zur vorletzten Jahrhundertwende. In der „Unbestimmtheit und inneren Direktionslosigkeit“ des Geldes sah Simmel die Folie, vor der die vielfältigen neuen Bindungen der modernen Kultur stattfinden und erst erkennbar werden.

China, Amerika, Indien und Japan

Doch den realsymbolischen Rahmen dieser Kultur bildeten bislang die Währungen der vorherrschenden westlichen Mächte, zuerst der Kolonialmacht Großbritannien und seit dem Zweiten Weltkrieg Amerikas. Erst im jetzigen Zustand der Globalisierung und Krise scheint der „absolute Bewegungscharakter der Welt“ in reiner Form hervorzutreten. Er ist eine andere Umschreibung für das Schlüsselwort der gegenwärtigen Lage: „systemisch“. Die wechselseitige Abhängigkeit von Nationen, Banken und zahllosen anderen Faktoren im Hinblick auf das Funktionieren des Ganzen war zwar auch vorher schon bekannt, doch erst die Krise macht die Kosten bewusst, wenn man gegen diese Erkenntnis verstößt.

Dass sich gerade China an die Spitze dieser Entwicklung stellt, ist nun seinerseits von großem symbolischem Interesse. Einerseits liegt es in der Logik der globalen Kräfteverschiebungen, die durch die gegenwärtige Krise möglicherweise noch beschleunigt werden. Laut jüngsten Berechnungen von Goldman Sachs wird das Bruttoinlandsprodukt der Bric-Staaten schon 2027 dasjenige der G 7 überholt haben, also zehn Jahre früher, als die Beratungsgesellschaft ursprünglich angenommen hatte. Die vier stärksten Ökonomien der Welt würden dann China, Amerika, Indien und Japan sein.

Die Frage der Leitwährung

Mit einer solchen Aussicht erwartet die Pekinger Regierung offenbar so wenig wie andere Regierungen, dass sich der Währungsvorschlag rasch realisieren lässt. Er scheint eher ein Versuchsballon zu sein, um Zeit zu gewinnen. Bisher reagierte Peking zögerlich auf westliche Forderungen, die eigene Währung freizugeben und mehr Geld für den Internationalen Währungsfonds zur Unterstützung notleidender Länder einzuzahlen - und dies nicht nur, weil es notleidende Regionen im eigenen Land genug hat.

Der Historiker Harold James von der Princeton University glaubt, dass China sich heute in einer ähnlichen Situation wie Amerika in den dreißiger Jahren befinde. Damals zögerten die Vereinigten Staaten, von der ausgelaugten Kolonialmacht Großbritannien eine finanzielle und politische Führungsrolle zu übernehmen, da ihnen die Institutionen der Zwischenkriegszeit noch zu sehr mit den Interessen des früheren Hegemonen verknüpft erschienen. Was China jetzt vorzubereiten scheint, ist eine Weltordnung, deren Institutionen nicht länger amerikanisch und westlich dominiert werden.

Chinesisches Denken will Vielfalt

Darüber hinaus könnte es sein, dass sich in dem Vorstoß auch die ersten kulturellen Umrisse einer chinesischer werdenden Welt zeigen. Auf frappierende Weise scheinen die absolute Bewegung und der systemische Charakter des globalen Kapitalismus ältesten Mustern der chinesischen Kultur zu entsprechen. Während das europäische Denken traditionell versucht, feststehende Größen zu ermitteln, und dabei von einem Ende zum anderen kommen will, gingen chinesische Denker von vornherein von einer vielpoligen Gesamtheit aus, die sie im Wesentlichen als Bewegung, Veränderung verstanden. Ihr Modell war also immer schon das „Rhizom“, das anfang- und endlose Beziehungsgeflecht, das Theoretiker wie die Franzosen Deleuze und Guattari für das entscheidende Kennzeichen der „Decodierung“ in der modernen Marktkultur halten.

Ist die chinesische Tradition für die Tücken des Kapitalismus also womöglich besser gerüstet als die westliche, die angesichts seiner Zentrifugalkräfte bis heute von Schwundgefühlen befallen wird? Manche chinesische Philosophen begründen ihre Vorbehalte gegenüber den westlich bestimmten globalen Institutionen jedenfalls neuerdings damit, dass diese über ein partikulares Nationendenken nicht hinausgekommen seien, und empfehlen stattdessen die alte chinesische Kategorie „tian xia“ - alles unter dem Himmel -, die China in seiner bisherigen Geschichte allerdings nur innerhalb seiner eigenen Grenzen ausprobiert hat; an den Rändern dieses Kosmos vermochte es früher nur irrelevante „Barbaren“ wahrzunehmen.

Charakteristischer Kontrast

Auch Zeit und Umstände, unter denen China den bisher markantesten Vorstoß zur Dokumentierung seiner neuen Stellung unternimmt, weisen einen so charakteristischen Kontrast zu westlichen Erwartungen auf, als folgten sie einem traditionellen Weisheitsbuch. Dem alten chinesischen Prinzip des „Wu wei“, des Nichthandelns, zufolge wartet man mit dem Handeln so lange, bis die erwünschte Entwicklung ganz logisch aus einer gegebenen Situation hervorgeht. Und so wirkt in der jetzigen Krisensituation der Vorschlag des chinesischen Volksbankpräsidenten so organisch und plausibel, dass nur die wenigsten ihn als Anmaßung einer konkurrierenden Macht zurückweisen, nicht einmal der amerikanische Präsident und sein Finanzminister. Während im europäischen Sinn derjenige als stark gilt, der anderen seinen Willen aufzwingen kann und sich aufgrund eines ingeniösen Plans durch sein Handeln möglichst auffällig profiliert, wurde im alten China derjenige für fähiger gehalten, der auf große Pläne verzichtet und stattdessen gegebene Konstellationen so ausnutzen kann, als ergäben sich die Wirkungen daraus von allein.

Schon das zeigt, dass sich aus kulturellen Mustern dieser Art keine Zukunftsvoraussagen ableiten lassen: Ob und in welcher Weise zum Beispiel das Land demokratisch wird, hängt auch von vielen anderen Faktoren ab, genauso wie die Frage, ob sich seine zunehmenden inneren Widersprüche eines Tages nach außen hin entladen werden. Der chinesischen Kultur entspräche es jedoch, ihre Wirkmacht daran zu messen, dass sie sich auch losgelöst von ihrem Ursprung zeigt. Alle Teilnehmer des Londoner Gipfels werden morgen willkürliche Einzelentscheidungen zu meiden haben, sie werden von vielen Enden zugleich, systemisch und vom Ganzen des Erdballs her denken müssen, und sie werden inmitten von Bewegungen handeln, deren Bedingungen sie nur zum Teil kennen. Möglicherweise ist die Welt schon jetzt etwas chinesischer geworden.



Text: F.A.Z.
Bildmaterial: AP