Monday, September 22, 2008

Simulationen – Anwendungen

Pictures of the Future

Simulationen – Anwendungen

Ideale Strömung

Computersimulationen sind in der Industrie ein unerlässliches Werkzeug. Sie ersetzen eine ganze Reihe teurer Praxistests, beschleunigen Entwicklungszeiten und sparen Kosten – bei Wind- und Gasturbinen genauso wie bei Mikroreaktoren, Magnetresonanz-Tomographen und Airbags.

Manchmal ist Physik ganz einfach. Letzten Sommer zum Beispiel, beim Urlaub in Südtirol, warfen die Kinder von Dr. Arno Steckenborn Blätter in die Waale. Das sind Kanäle, die seit dem 13. Jahrhundert die Obstplantagen in Meran bewässern. Hinter jeder Ecke trudelte das Laub auf der Stelle und schwamm erst weiter, als die Kinder mit Stöcken nachhalfen. Der Vater der kleinen Naturforscher kannte das Phänomen der tanzenden Blätter schon, schließlich befasst sich der Physiker bei Siemens Corporate Technology (CT) in Berlin ebenfalls mit Kanälen. Die sind jedoch so dünn wie ein Haar und für Mikroreaktoren gedacht, in denen in Zukunft Chemikalien und Medikamente hergestellt werden sollen (siehe Beitrag Fab on a Chip in Pictures of the Future, Herbst 2002).

Für die Obstbauern ist das Laub ein Ärgernis, denn es verstopft die Siebe. Auch in den Lilliput-Leitungen im Berliner Labor bleiben mitunter Chemikalien hängen oder vermischen sich nicht so wie sie sollten. Weil man in Mikroreaktoren aber nicht hineinschauen kann, machen Arno Steckenborn und seine Kollegen die Strömung mit Computerhilfe sichtbar. In einem Simulationsprogramm bauen sie ein Modell, in das sie alle physikalischen Parameter wie Materialeigenschaften und Geometrie der Leitungen oder Zähigkeit und Temperatur der Flüssigkeit stecken. Das CFD-Programm (Computational Fluid Dynamics) liefert dann Strömungsprofile, Temperaturverteilungen – und so manche Überraschung: etwa bei einem Mikromischer, der zwei unterschiedlich warme Flüssigkeiten mixen sollte.

Die Simulation zeigt: Zwei Flüssigkeiten (rot und gelb, von oben kommend) vermischen sich aufgrund von Verwirbelung bei hoher Fließgeschwindigkeit (rechts) besser als bei langsamer (links)

Erst die Simulation zeigte, warum das nicht funktionierte: In der laminaren Strömung flossen beide Chemikalien nebeneinander her, wie Honig, der sich nicht homogen in der Tasse voll Milch verteilt. Während Wirbel ansonsten verpönt sind, waren sie hier der Schlüssel zur Lösung – sozusagen der Löffel in der Milch. Indem sie die eine Flüssigkeit etwas unter der anderen einströmen lassen, schaffte es Steckenborns Team, dass die eine Flüssigkeit etwas übers Ziel hinausschießt und sich mit der anderen verwirbelt. Am Ende des Mischers verzweigt sich der Kanal wieder in zwei getrennte Leitungen, in beiden zeigt die Simulation durch gleichmäßiges Grün völlig ausgeglichene Temperaturen.

Programmierte Wirklichkeit. "Simulation spart Zeit und Geld und zeigt uns, an welchen Parametern wir drehen können", sagt Arno Steckenborn. Die Vorteile kommen selbst dann zum Tragen, wenn der Entwurf eines physikalischen Modells im Computer mehrere Monate in Anspruch nimmt . Schließlich käme die Herstellung vieler Prototypen teurer und wäre noch aufwändiger. Eines können Simulationen aber nicht: Experimente ersetzen. Vielmehr dienen sie dazu, Praxistests vorzubereiten und zu entscheiden, wo sich Veränderungen lohnen. "Wir machen Ausfallschritte wie ein Basketballer und schauen im Modell, in welche Richtung wir den Ball spielen können", erläutert Steckenborn. Gefüttert wird das Mikromischer-Modell zunächst mit den Eigenschaften bekannter Medien wie Stickstoff oder Wasser. Erst wenn Modell und Wirklichkeit übereinstimmen, werden virtuell andere Fluide durch den Mikroreaktor geschickt – dann allerdings lassen sich nahezu beliebige Änderungen per Mausklick bewerkstelligen, z.B. die Geometrie des Mischers oder die Temperaturen der einströmenden Medien.

Eigentliche Aufgabe einer CFD-Software ist die Lösung der physikalischen Navier-Stokes-Gleichungen, die die Strömung in Flüssigkeiten und Gasen beschreiben. Zur Freude der Physiker sind diese so universell, dass sie in haarfeinen Kanälen ebenso gelten wie an den über 50 m langen Rotorblättern riesiger Windgeneratoren (siehe Windräder mit Fehlerquote Null). Daher startet auch Jesper Laursen, Ingenieur bei Siemens Wind Power im dänischen Brande, als erstes die mehrere 10 000 € teure CFD-Software. Es erscheinen die Konturen eines Rotorblatts, umhüllt von Linien, die den errechneten Weg der Luftmoleküle zeigen. An den äußeren zwei Dritteln des Blatts strömt die Luft den Rotor gleichmäßig an, wird von ihm gebremst und erzeugt einen Sog, der das Blatt seitwärts bewegt und damit den Generator antreibt.

"Um den inneren Teil des Rotors haben sich die Hersteller bisher noch zu wenig gekümmert", sagt Laursen und zeigt auf den Bereich, wo das Blatt an der Welle befestigt ist. Dort macht die Strömung Knicke und reißt ab, das kostet Energie. Laursen hat etliche Wochen gebraucht, um das Rotorblatt im Computer zu modellieren, doch diese Arbeit zahlt sich jetzt aus. Mit wenigen Mausklicks verändert er die Lage der zwei Millionen Punkte, die die Oberfläche des Rotors wie ein enges Netz umspannen und die in einer 1 Gbyte großen Datei gespeichert sind. Dann dauert es einen Tag, bis ein Cluster aus mehreren PC die Strömung an jedem Punkt neu berechnet hat.

Heiße Kandidaten für eine bessere Flügelform mit gleichmäßiger Strömung vom Stumpf bis zur Spitze hat Laursen im Computer gespeichert. Bei ihnen geht die scharfe hintere Flügelkante nicht mehr in einen zylinderförmigen Fuß über, sondern läuft leicht abgeflacht bis in die Halterung des Flügels auf der Welle. Heute setzen Windräder 45 % der Energie des Winds in Strom um – "zwei bis drei Prozentpunkte mehr Wirkungsgrad sind dank der neuen Rotorform drin", schätzt der Maschinenbau-Ingenieur. Das schlage sich übers Jahr gerechnet in einer um 500 MWh höheren Energieausbeute nieder – und das sei es, was die Kunden wirklich interessiere.

icon: up

Kissen vorm Kopf – Airbag-Simulation

Airbag-Simulation

Langsam schiebt sich der Gitterschädel nach vorn und schmiegt sich in das Plastikkissen. Dann lässt die Computersimulation den Modellkopf sanft zurückfedern. "Und so sieht es in der Realität aus", sagt Gerd Scholpp: Im Videofilm schießt der Kopf eines Dummys wie eine Kanonenkugel gegen die A-Säule des Fahrzeugs. Wäre es keine Puppe sondern ein Mensch, hätte der Kopf nun blaue Flecken – wenn er Glück hatte und die Polsterung der A-Säule bei Siemens Restraint Systems in Alzenau optimiert wurde. Andernfalls hätte der Aufprall böse enden können. Das Siemens-Entwicklungszentrum testet für die Automobilindustrie Rückhalte- und Sicherheitssysteme wie Sicherheitsgurte, Airbags oder einen Fußgängerschutz in künftigen Motorhauben. Ohne Simulation läuft hier nichts, denn die spart Zeit und Kosten. Um das Modell eines Crashs im Computer nachzubilden, sind zwei von Scholpps Mitarbeitern zwar mehrere Monate beschäftigt, doch einen realen Prototyp gegen die Wand zu fahren kostet noch weit mehr: bis zu 1 Mio. €. Zudem kann man die Simulationen beliebig oft wiederholen und an den Parametern drehen, um das beste Schutzsystem zu ermitteln. Dennoch finden in der 160 m langen Halle unter Scholpps Büro weiterhin täglich Crashversuche oder Schlittenexperimente statt. "Wir brauchen die realen Tests, um das Computer-Modell zu prüfen", sagt der Maschinenbauingenieur. Die Software-Werkzeuge sind heute so ausgefeilt, dass man die Belastung der Insassen oder die Gurtkräfte vorgeben kann, und die Simulation errechnet, wie das Rückhaltesystem ausgelegt werden muss. Die Geometrie des Fahrzeugs stammt dabei von den Autoherstellern, und die Alzenauer setzen ihre virtuellen Dummys hinein. Dabei geht der Trend weg von starren Dummymodellen aus zusammengesetzten Kugeln. Künftig werden auch Menschen mit der Methode der finiten Elemente modelliert, die eine Verformung des Gewebes oder das Brechen von Knochen mitsimuliert. Überrollversuche mit Testpersonen ergaben hier großen Entwicklungsbedarf. Ein virtueller Dummy verhält sich bisher wie ein Sandsack und rutscht einfach zur Seite – der seitliche Fensterairbag müsste daher möglichst schnell zünden. Tatsächlich aber spannen die Insassen instinktiv die Muskeln an und versuchen die Fahrzeugbewegung auszugleichen. Scholpp: "Das gibt uns einige Sekundenbruchteile mehr Zeit."

No comments: