Pictures of the Future
Simulationen – Anwendungen
Ideale Strömung
Computersimulationen sind in der Industrie ein unerlässliches Werkzeug. Sie ersetzen eine ganze Reihe teurer Praxistests, beschleunigen Entwicklungszeiten und sparen Kosten – bei Wind- und Gasturbinen genauso wie bei Mikroreaktoren, Magnetresonanz-Tomographen und Airbags.
Manchmal ist Physik ganz einfach. Letzten Sommer zum Beispiel, beim Urlaub in Südtirol, warfen die Kinder von Dr. Arno Steckenborn Blätter in die Waale. Das sind Kanäle, die seit dem 13. Jahrhundert die Obstplantagen in Meran bewässern. Hinter jeder Ecke trudelte das Laub auf der Stelle und schwamm erst weiter, als die Kinder mit Stöcken nachhalfen. Der Vater der kleinen Naturforscher kannte das Phänomen der tanzenden Blätter schon, schließlich befasst sich der Physiker bei Siemens Corporate Technology (CT) in Berlin ebenfalls mit Kanälen. Die sind jedoch so dünn wie ein Haar und für Mikroreaktoren gedacht, in denen in Zukunft Chemikalien und Medikamente hergestellt werden sollen (siehe Beitrag Fab on a Chip in Pictures of the Future, Herbst 2002).
Für die Obstbauern ist das Laub ein Ärgernis, denn es verstopft die Siebe. Auch in den Lilliput-Leitungen im Berliner Labor bleiben mitunter Chemikalien hängen oder vermischen sich nicht so wie sie sollten. Weil man in Mikroreaktoren aber nicht hineinschauen kann, machen Arno Steckenborn und seine Kollegen die Strömung mit Computerhilfe sichtbar. In einem Simulationsprogramm bauen sie ein Modell, in das sie alle physikalischen Parameter wie Materialeigenschaften und Geometrie der Leitungen oder Zähigkeit und Temperatur der Flüssigkeit stecken. Das CFD-Programm (Computational Fluid Dynamics) liefert dann Strömungsprofile, Temperaturverteilungen – und so manche Überraschung: etwa bei einem Mikromischer, der zwei unterschiedlich warme Flüssigkeiten mixen sollte.
Erst die Simulation zeigte, warum das nicht funktionierte: In der laminaren Strömung flossen beide Chemikalien nebeneinander her, wie Honig, der sich nicht homogen in der Tasse voll Milch verteilt. Während Wirbel ansonsten verpönt sind, waren sie hier der Schlüssel zur Lösung – sozusagen der Löffel in der Milch. Indem sie die eine Flüssigkeit etwas unter der anderen einströmen lassen, schaffte es Steckenborns Team, dass die eine Flüssigkeit etwas übers Ziel hinausschießt und sich mit der anderen verwirbelt. Am Ende des Mischers verzweigt sich der Kanal wieder in zwei getrennte Leitungen, in beiden zeigt die Simulation durch gleichmäßiges Grün völlig ausgeglichene Temperaturen.
Programmierte Wirklichkeit. "Simulation spart Zeit und Geld und zeigt uns, an welchen Parametern wir drehen können", sagt Arno Steckenborn. Die Vorteile kommen selbst dann zum Tragen, wenn der Entwurf eines physikalischen Modells im Computer mehrere Monate in Anspruch nimmt . Schließlich käme die Herstellung vieler Prototypen teurer und wäre noch aufwändiger. Eines können Simulationen aber nicht: Experimente ersetzen. Vielmehr dienen sie dazu, Praxistests vorzubereiten und zu entscheiden, wo sich Veränderungen lohnen. "Wir machen Ausfallschritte wie ein Basketballer und schauen im Modell, in welche Richtung wir den Ball spielen können", erläutert Steckenborn. Gefüttert wird das Mikromischer-Modell zunächst mit den Eigenschaften bekannter Medien wie Stickstoff oder Wasser. Erst wenn Modell und Wirklichkeit übereinstimmen, werden virtuell andere Fluide durch den Mikroreaktor geschickt – dann allerdings lassen sich nahezu beliebige Änderungen per Mausklick bewerkstelligen, z.B. die Geometrie des Mischers oder die Temperaturen der einströmenden Medien.
Eigentliche Aufgabe einer CFD-Software ist die Lösung der physikalischen Navier-Stokes-Gleichungen, die die Strömung in Flüssigkeiten und Gasen beschreiben. Zur Freude der Physiker sind diese so universell, dass sie in haarfeinen Kanälen ebenso gelten wie an den über 50 m langen Rotorblättern riesiger Windgeneratoren (siehe Windräder mit Fehlerquote Null). Daher startet auch Jesper Laursen, Ingenieur bei Siemens Wind Power im dänischen Brande, als erstes die mehrere 10 000 € teure CFD-Software. Es erscheinen die Konturen eines Rotorblatts, umhüllt von Linien, die den errechneten Weg der Luftmoleküle zeigen. An den äußeren zwei Dritteln des Blatts strömt die Luft den Rotor gleichmäßig an, wird von ihm gebremst und erzeugt einen Sog, der das Blatt seitwärts bewegt und damit den Generator antreibt.
"Um den inneren Teil des Rotors haben sich die Hersteller bisher noch zu wenig gekümmert", sagt Laursen und zeigt auf den Bereich, wo das Blatt an der Welle befestigt ist. Dort macht die Strömung Knicke und reißt ab, das kostet Energie. Laursen hat etliche Wochen gebraucht, um das Rotorblatt im Computer zu modellieren, doch diese Arbeit zahlt sich jetzt aus. Mit wenigen Mausklicks verändert er die Lage der zwei Millionen Punkte, die die Oberfläche des Rotors wie ein enges Netz umspannen und die in einer 1 Gbyte großen Datei gespeichert sind. Dann dauert es einen Tag, bis ein Cluster aus mehreren PC die Strömung an jedem Punkt neu berechnet hat.
Heiße Kandidaten für eine bessere Flügelform mit gleichmäßiger Strömung vom Stumpf bis zur Spitze hat Laursen im Computer gespeichert. Bei ihnen geht die scharfe hintere Flügelkante nicht mehr in einen zylinderförmigen Fuß über, sondern läuft leicht abgeflacht bis in die Halterung des Flügels auf der Welle. Heute setzen Windräder 45 % der Energie des Winds in Strom um – "zwei bis drei Prozentpunkte mehr Wirkungsgrad sind dank der neuen Rotorform drin", schätzt der Maschinenbau-Ingenieur. Das schlage sich übers Jahr gerechnet in einer um 500 MWh höheren Energieausbeute nieder – und das sei es, was die Kunden wirklich interessiere.
Mollig hat Vorteile im MR-Tomographen
Ob Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger nach seinem Motorradunfall im Januar 2006 im Magnetresonanz-Tomographen untersucht wurde, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass die absorbierte Hochfrequenzleistung beim ehemaligen Mister Universum relativ hoch gewesen wäre, denn "Muskeln haben eine hohe elektrische Leitfähigkeit und erhitzen sich stärker", weiß Dr. Dirk Diehl von Siemens Corporate Technology in Erlangen. Weil die spezifische Absorptionsrate (SAR, in Watt pro Kilogramm Körpergewicht) nicht überschritten werden darf, muss das Bedienpersonal eines MR-Tomographen vor jeder Untersuchung Größe und Gewicht des Patienten eingeben. Daraufhin begrenzt das Gerät die hochfrequenten elektromagnetischen Impulse, die das Gewebe zum Aussenden von Signalen anregen, aus denen dann das Bild errechnet wird. Weil Größe und Gewicht aber relativ wenig über die tatsächliche Konstitution des Patienten aussagen, hält das Gerät einen großen Sicherheitsabstand ein – doch der verlängert wiederum die Messzeit und kostet Bildschärfe. Um den Spielraum, den der gesetzliche Grenzwert vorgibt, besser auszunutzen, modelliert Diehl mit der Software Microwave Studio einen MR-Tomographen und legt virtuelle Menschen verschiedener Statur darunter. 40 verschiedene Gewebearten werden simuliert. Wo die Felder und der SAR-Wert und damit die Temperatur besonders hoch sind, erkennt der Physiker Diehl sofort an der roten Farbe: Hotspots gibt es im Gewebe etwa nahe der Röhrenwand und eben auch im Muskelgewebe. Mollige Menschen seien im Vorteil, sagt Diehl, denn "Fett absorbiert weniger Hochfrequenzleistung". Im Blick hat er auch die Homogenität der elektromagnetischen Felder. Bei den neuesten MR-Anlagen mit einer magnetischen Flussdichte von 3 T oder mehr schwankt die Intensität des Hochfrequenzfelds mit der Eindringtiefe ins Gewebe sehr stark. Dies muss das Steuerprogramm des Tomographen ausgleichen. Dank Simulation soll die Steuerung besser an den Patienten angepasst und damit die Feldverteilung homogener und die Bildqualität noch besser werden.
Gasturbinen ohne Brummen. Effizienz ist auch das A und O für die Betreiber von Gaskraftwerken – besonders seit die Erdgaspreise in die Höhe geschnellt sind. Die Energieversorger bestellen gerne bei Siemens, weil die Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerke (GuD) made by Siemens mit knapp 60 % Wirkungsgrad die effizientesten der Welt sind (Effiziente Kraftwerke). Großen Anteil daran hat die Form der Turbinenschaufeln. In enger Kooperation mit Siemens Power Generation (PG) simuliert das Kompetenzzentrum Simulation und Risikoanalyse bei CT in München die Schaufeln von Gas- und Dampfturbinen, weil sich dort noch einige Prozentpunkte Wirkungsgrad herauskitzeln lassen. Dabei geht das Team aus Ingenieuren und Mathematikern ähnlich vor wie die Kollegen in Dänemark bei den Windrotoren: Die Turbinenschaufeln werden durch ein engmaschiges Netz mathematisch beschrieben, und der Computer löst die Navier-Stokes-Gleichungen – Zielfunktion ist die Effizienz.
Ist das mathematische Modell erstellt, benötigt ein Cluster moderner Workstations eine Woche, um Parameter wie Schaufelbiegung oder -verdrillung durchzurechnen und die optimale Schaufelgeometrie zu finden. "Die meiste Zeit geht für die Simulation der Strömung drauf", sagt Dr. Utz Wever vom Kompetenzzentrum. Die Vorgaben sind allerdings eng, denn nicht alles, was mathematisch optimal wäre, kann in den Werkhallen von PG auch gefertigt werden. Schließlich müssen die Schaufeln extreme Gastemperaturen von über 1 500 °C aushalten, was die Wahl der Materialien und die zulässigen Formen begrenzt.
Noch ein anderes Problem bereitet den Turbinenbauern Kopfzerbrechen. Die Brennkammer mit den bis zu 24 Gasbrennern einer Gasturbine und das Gehäuse verhalten sich wie Saite und Korpus einer Geige – das rhythmische Oszillieren der Gasflammen kann laute Brummtöne zwischen 90 und 500 Hz erzeugen. Wenn deren Frequenz mit der Resonanzfrequenz des Gehäuses übereinstimmt, können sich die Schwingungen sogar derart aufschaukeln, dass die Turbine beschädigt wird – ein Phänomen, mit dem alle Hersteller von Gasturbinen zu kämpfen haben. Doch bevor dies passiert, wird die Gasturbine heruntergefahren. Befriedigend ist diese Lösung für die Betreiber jedoch nicht. Um schon während des Designs neuer Gasturbinen gegensteuern zu können, hat PG vor drei Jahren mit Kollegen des CT-Kompetenzzentrums begonnen, Simulationstools zu entwickeln, um die brummenden Turbinen zum Verstummen zu bringen.
Mittlerweile haben es die Experten mit einer zweistufigen Simulation geschafft, die Ringbrennkammer im Rechner nachzubilden und für verschiedene Gasturbinen vorherzusagen, warum und bei welcher Frequenz diese schwingen. Der erste Schritt, eine Akustiksimulation, wird in Mülheim ausgeführt. Sie simuliert mit einem Finite-Elemente-Verfahren die reine Akustik der Brennkammer bei thermischen Bedingungen, wie sie auch im Betrieb herrschen, allerdings ohne Berücksichtigung einer Flamme. So werden die Resonanzen der Brennkammer bestimmt – wie in einem Konzertsaal, dessen Akustik vermessen wird. Diese akustischen Daten stecken die Münchner Kollegen mit den Eigenschaften der Brenner und der Flammen in eine 3D-Stabilitätsanalyse, die den zeitlichen Druckverlauf in der Brennkammer errechnet. In der Software lässt sich die Geometrie leicht verändern und zum Beispiel der Einspritzpunkt des Gases verschieben. Die Simulation zeigt, wann die Einkopplung der Verbrennungsinstabilitäten in die Akustik gering ist – dann bleibt die Turbine stumm.
"Die Simulation trifft das Experiment sehr genau", sagt Dr. Sven Bethke, Fachmann für Thermoakustik bei Siemens in Mülheim an der Ruhr. Bis vor kurzem haben Bethke und Wever nur vorhandene Gasturbinentypen berechnet, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Ergebnisse der Simulation zu interpretieren sind. In diesem Jahr sollen nun einzelne Brenner und Brennkammern auf den Prüfstand, die mit Hilfe der Akustiksimulation ausgewertet und weiter optimiert werden. 2007 ist dann die erste Gasturbine einsatzbereit, bei der das neue 3D-Stabilitätsanalyseverfahren mit seinen Vorhersagen die thermoakustische Auslegung mitbestimmt hat. Das wird sich auch in der Leistung niederschlagen, denn durch die verringerte Brummneigung lässt sich der Betriebsbereich deutlich erweitern. "Das wird eine der leistungsstärksten Gasturbinen der Welt", verspricht Utz Wever. Das GuD-Kraftwerk Irsching (Effiziente Kraftwerke). wird mit dieser Turbine erstmals die magische Grenze von 60 % Wirkungsgrad erreichen.
Bernd Müller
Kissen vorm Kopf – Airbag-Simulation
Langsam schiebt sich der Gitterschädel nach vorn und schmiegt sich in das Plastikkissen. Dann lässt die Computersimulation den Modellkopf sanft zurückfedern. "Und so sieht es in der Realität aus", sagt Gerd Scholpp: Im Videofilm schießt der Kopf eines Dummys wie eine Kanonenkugel gegen die A-Säule des Fahrzeugs. Wäre es keine Puppe sondern ein Mensch, hätte der Kopf nun blaue Flecken – wenn er Glück hatte und die Polsterung der A-Säule bei Siemens Restraint Systems in Alzenau optimiert wurde. Andernfalls hätte der Aufprall böse enden können. Das Siemens-Entwicklungszentrum testet für die Automobilindustrie Rückhalte- und Sicherheitssysteme wie Sicherheitsgurte, Airbags oder einen Fußgängerschutz in künftigen Motorhauben. Ohne Simulation läuft hier nichts, denn die spart Zeit und Kosten. Um das Modell eines Crashs im Computer nachzubilden, sind zwei von Scholpps Mitarbeitern zwar mehrere Monate beschäftigt, doch einen realen Prototyp gegen die Wand zu fahren kostet noch weit mehr: bis zu 1 Mio. €. Zudem kann man die Simulationen beliebig oft wiederholen und an den Parametern drehen, um das beste Schutzsystem zu ermitteln. Dennoch finden in der 160 m langen Halle unter Scholpps Büro weiterhin täglich Crashversuche oder Schlittenexperimente statt. "Wir brauchen die realen Tests, um das Computer-Modell zu prüfen", sagt der Maschinenbauingenieur. Die Software-Werkzeuge sind heute so ausgefeilt, dass man die Belastung der Insassen oder die Gurtkräfte vorgeben kann, und die Simulation errechnet, wie das Rückhaltesystem ausgelegt werden muss. Die Geometrie des Fahrzeugs stammt dabei von den Autoherstellern, und die Alzenauer setzen ihre virtuellen Dummys hinein. Dabei geht der Trend weg von starren Dummymodellen aus zusammengesetzten Kugeln. Künftig werden auch Menschen mit der Methode der finiten Elemente modelliert, die eine Verformung des Gewebes oder das Brechen von Knochen mitsimuliert. Überrollversuche mit Testpersonen ergaben hier großen Entwicklungsbedarf. Ein virtueller Dummy verhält sich bisher wie ein Sandsack und rutscht einfach zur Seite – der seitliche Fensterairbag müsste daher möglichst schnell zünden. Tatsächlich aber spannen die Insassen instinktiv die Muskeln an und versuchen die Fahrzeugbewegung auszugleichen. Scholpp: "Das gibt uns einige Sekundenbruchteile mehr Zeit."
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