Monday, September 22, 2008

Simulationen – Virtual-Reality-Labor

Pictures of the Future

Simulationen – Virtual-Reality-Labor

Im Reich der virtuellen Produkte

Der globale Wettbewerb diktiert die Ziele: Immer schneller, hochwertiger und Kosten sparender sollen Produkte entwickelt und gefertigt werden. Simulationstechniken und Virtual Reality helfen dabei. Sie lassen Produkte und ganze Fertigungslinien virtuell entstehen, noch bevor eine Schraube oder Maschine real existiert.

Im VR-Labor verfolgen die Zuschauer interessiert den virtuellen Flug durchs Kraftwerk. Lok-Führerstände lassen sich ebenso simulieren wie ein ganzes Motorenwerk

Virtueller Flug / virtueller Führerstand

Im Fachzentrum Virtual Engineering geht der Zug ab. Lokführer Armin Richter beschleunigt seinen Schnellzug auf dem Weg durch die Tauern in Osttirol, Österreich. Und doch kommt er keinen Meter voran. Er sitzt nämlich in einem 1:1-Modell des Führerstandes im Virtual-Reality-Labor von Siemens Corporate Technology (CT) in München. Beamer werfen die Fahrstrecke als realistisch wirkendes Stereobild auf eine Rundumleinwand. Der Lokführer sieht die Gleise, Bahnhöfe und Tunnel auf sich zufliegen. Fehlerlos steuert Richter seinen Zug über die kurvenreiche Strecke zwischen Schwarzach-St.Veit und Spittal an der Drau. Selbstverständlich ist das nicht. Denn er befindet sich in einem für ihn noch fremden Führerstand, genau wie die anderen 38 Testkollegen aus 13 Ländern. Im Rahmen des europäischen Förderprojekts European Driver’s Desk testeten sie bei Siemens ein neues Modell für einen europaweit einheitlichen Lok-Führerstand.

"Die Lokführer und die beteiligen europäischen Bahnhersteller waren von der Simulation begeistert", berichtet Bernd Friedrich, Kompetenzfeldleiter für virtuelle Produktentwicklung bei Siemens. Und Zugspezialist Uwe Mades, der für Siemens Transportion Systems in Erlangen das Projekt begleitete, schwärmt: "Wir konnten kostengünstig verschiedene Fahrzustände und Situationen testen. Jeder Lokführer fuhr unter den gleichen Bedingungen, was die Ergebnisse gut vergleichbar machte. Auf einem realen Zug wäre das so nicht möglich gewesen." Diesen vor zwei Jahren erstmals getesteten Einheitsführerstand gibt es zwar noch nicht. Aber im Projekt MODTRAIN, bei dem bis 2007 ein modulares Zugkonzept für die Europäische Union entworfen wird, ist das neue Steuerpult als Teilprojekt bereits integriert.

Natürlich hat Bernd Friedrich im VR-Labor nicht immer Europa zu Gast. Etwa 90 % der Kunden stammen aus Siemens-Bereichen wie Medical Solutions, Automation and Drives (A&D) oder Siemens VDO Automotive. "Sie kommen zu uns, weil wir mit digitalen, numerisch gestützten Methoden sowohl ihre Produktentwicklung als auch ihre Produktionsplanung unterstützen können", erklärt der Ingenieur. "Hier können sie Prototypen noch im frühen Entwicklungsstadium testen, bevor sie als Hardware gebaut werden." Selbst ganze Kraftwerke werden digitalisiert – komplett mit Maschinenpark, Rohrleitungen, Verkabelung und der Verfahrenstechnik bis hin zu Anlagen einschließlich der Fertigungsprozesse, was Fachleute als "digitale Fabrik" bezeichnen.

Friedrichs Kollege Carsten Selke hat beispielsweise zusammen mit Experten von A&D in Nürnberg eine komplette Fabrik für Elektromotoren digital aufgebaut. Die gesamte Montagelinie samt Materialfluss bis hin zur Fabriksteuerung wurde in einem 3D-Layout geplant und mit der Ablaufsimulation getestet. In der Realität wird dieses Motorenwerk gerade in China gebaut. Obwohl erst der Rohbau steht, wissen die Siemens-Fabrikplaner schon, wie der Materialfluss in der Fertigung ablaufen wird und ob die einzelnen Bearbeitungsschritte im richtigen Takt zueinander funktionieren.

Dr. Georg Nerowski, verantwortlich für das Projekt "Global Motor" bei A&D: "Wir sind mit dieser Unterstützung unserer Planungsarbeiten für das neue Werk in China sehr zufrieden. Besonders wichtig war das strukturierte Vorgehen bei der Prozessanalyse, aus der sich sehr übersichtlich die Anordnung der Ressourcen in der Fabrik erstellen lässt. Die Layout-Arbeiten konnten damit erheblich beschleunigt werden. Die Layout-Visualisierung und nachfolgende Simulation brachten Planungssicherheit darüber, wie viel wir investieren müssen."

Luftmassensensor und Head-up-Display

Per Simulation Planungsfehler von Anfang an vermeiden: beim Luftmassen-Sensor (links) ebenso wie beim Head-up-Display fürs Auto

Noch ist Carsten Selke mit seinen Simulationswerkzeugen nicht ganz zufrieden: "Eigentlich ließe sich die digitale Fabrik noch weiter verfeinern bis hin zur Funktionssteuerung einzelner Maschinen." Zwar wird das Verhalten numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen von Experten bei A&D bereits simuliert, aber die Kopplung mit dem übrigen Produktionsprozess steht noch aus. "Es gibt noch zu viele unterschiedliche Datenmodelle je nach Hersteller der Software-Tools", sagt Selke. Methoden und Schnittstellen müssten branchenübergreifend standardisiert werden. Deshalb beteiligt sich Siemens unter anderem an Standardisierungs-Gremien wie ProSTEP, einer Interessengemeinschaft aus 200 führenden Unternehmen der Automobil-, Luftfahrt- und Raumfahrtindustrie sowie des Anlagenbaus und anderer Industriebranchen.

Flug durch einen Sensor. Im VR-Labor hat Friedrich eine Simulation vorbereitet. "Start frei für den Flug durch einen Luftmassen-Sensor – nicht größer als ein Cent-Stück", kündigt er an und drückt auf die Tastatur eines Computers, der sechs andere PCs steuert, die von einem Nebenraum aus die sechs Projektoren an der Decke des Virtual-Reality-Centers mit Bilddaten versorgen. Sie werfen die berechneten Stereobilder aus senkrecht und waagrecht polarisiertem Licht auf drei Projektionsschirme. Mit einer Polarisationsbrille vor den Augen sehen die Besucher dann alles in 3D. Sie können wie in einem Film verfolgen, wie die Luft – veranschaulicht durch Strömungslinien – durch den Sensor im Ansaugkanal eines Pkw-Motors gleitet.

Ein kurzer Klick mit der Maus, schon fühlt man sich im Luftstrom mitgenommen und fliegt in den Sensor hinein, wo das aktive Sensorelement die Luftmenge misst. Schwarze Partikelchen sausen heran – Ruß aus Dieselabgasen, der ebenfalls angesaugt wird und den Sensor verschmutzen könnte. Wieder mit einem Mausklick dreht Friedrich den Sensor und verändert den Luftstrom. "Hinter dieser Visualisierung stecken aufwändige strömungsmechanische Berechnungen, deren Ergebnisse wir hier in Echtzeit in Stereobilder umwandeln und ablaufen lassen können", erklärt Friedrich. "Unsere Kollegen bei Siemens VDO wollten etwa wissen, wie das Strömungsfeld aussieht, wie viel Luft tatsächlich durch den Sensor strömt und wie viele Schmutzpartikel den Sensor treffen. Eben die gesamte Funktion prüfen." Und das, lange bevor der Sensor in Hardware gebaut wurde.

Spieglein, Spieglein im Display. Oder ein anderes Beispiel: Für ein neuartiges Head-up-Display im Auto-Cockpit untersuchte das VR-Labor Konstruktions- und Montagetoleranzen. Zu simulieren waren verschiedene Spiegel im Display, die im Fahrzeug die Tacho- oder Navigationsinformationen scharf und kontrastreich auf die Windschutzscheibe werfen. Friedrichs Kollegen bei Siemens VDO in Babenhausen interessierte, welche Toleranzen in Form und Lage der Spiegel noch erlaubt sind, damit der Fahrer auf der Frontscheibe tatsächlich ein optimales Bild sieht. Wenn die Spiegel bei der Montage beispielsweise schief aufgeklebt werden, könnten die Anzeigen verzerrt sein.

Wieder springen die Projektoren an und werfen das 3D-Bild eines Head-up-Display-Spiegels auf die Leinwand. Kräfte, sichtbar durch Vektorpfeile, wirken auf ihn ein und verformen seine Oberfläche. "Unsere Ingenieure sehen dank dieser Animation intuitiv, wo die Knackpunkte liegen und wo sie die Konstruktion optimieren sollten", erläutert Friedrich und nennt einen der wichtigsten Vorteile, die sein VR-Lab bietet: "Durch unsere Simulationen lassen sich die Entwicklungszeiten um bis zu 30 % verkürzen." Damit gelangen neue Produkte nicht nur früher auf den Markt, sie sind auch ausgereifter, weil die Simulation viele Fehler frühzeitig aufdeckt. Gleichzeitig lassen sich der Serienanlauf und die Produktion in der Fabrik rascher umsetzen, da die benötigten Ressourcen und Materialien bereits vorab genau simuliert werden.

Um solche Simulationen durchzuführen, benötigt Friedrichs Team eine Menge Daten von den Konstrukteuren. Neben der reinen Geometrieform des CAD-Modells auch Informationen, aus welchem Material das Produkt besteht und welche Randbedingungen herrschen – etwa Angaben über sein elektrisches und mechanisches Umfeld. Mit all diesen Daten erstellen die Fachleute dann ein numerisches Simulationsmodell. Die Software-Werkzeuge dazu sind auf dem Markt erhältlich. "Wir entwickeln sie nicht selbst. Unsere Leistung ist aber, dass wir diese komplexen Werkzeuge sehr gut anwenden können", betont Friedrich.

Das ursprüngliche CAD-Modell wird dafür in der Regel zuerst vereinfacht und von Details befreit, die für die Simulation keine Rolle spielen. Das hält die Rechenzeit so kurz wie möglich. Danach wird das Modell in ein Netz aus vielen Millionen winzigen Dreieckskörpern zerlegt, so genannten finiten Elementen. Mittels numerischer Verfahren werden nun die mit physikalischen Randbedingungen wie Temperatur, Druck- oder Kraftwerten belegten finiten Elemente Stück um Stück berechnet. Da jeder dieser Werte auf Knopfdruck veränderbar ist, lassen sich problemlos "Was-wäre-wenn-Untersuchungen" anstellen. Komplexer wird die Simulation, wenn Werte aus unterschiedlichen physikalischen Bereichen zusammenwirken. Die Simulationsexperten haben etwa bereits Verfahren der Strömungsmechanik mit Akustik gekoppelt und so bei einem Stromabnehmer eines ICE-Zugs die Schallausbreitung von Luftwirbeln untersucht.

Ganzheitliche Simulation. "Die höchste Form der Kopplung, die wir anstreben, ist die mechatronische Simulation, bei der Mechanik, Elektronik und Software eines Produkts zusammenwirken", schildert Friedrich seine Vision vom virtuellen Prototypen. Bisher wird in der Regel zuerst die Mechanik eines Bauteils entwickelt und erst im Anschluss die passende Software. "Wir könnten die Produktentwicklung schneller vorantreiben, wenn wir die Software parallel zur Konstruktion entwickeln würden und beides zusammen testen könnten", erklärt Friedrich. Vorreiter sind seine Kollegen von A&D in Erlangen, die mit dem Sinumerik Machine Simulator (siehe Kasten) einen Schritt in diese Richtung gegangen sind. "Aber bis wir die komplette Integration sicher im Griff haben, wird es noch etwa zwei Jahre dauern. Wir arbeiten zur Zeit sehr intensiv an der Entwicklung der notwendigen Methoden undRechenverfahren."
Rolf Sterbak

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Ich bin eine Werkzeugmaschine

Ein PC als virtuelle Werkzeugmaschine? Für Thomas Menzel, Produktmanager bei Siemens Automation and Drives in Erlangen, ist das kein Problem. Sein Sinumerik Machine Simulator genanntes Software-Programm demonstriert, wie diese wundersame Verwandlung funktioniert. Dazu wird der Computer an eine numerische Steuerung angeschlossen, wie sie bei Werkzeugmaschinen üblich ist. Dann startet Menzel das Programm auf seinem PC. Es beginnt, der angeschlossenen Steuerung alle Funktionen einer echten Maschine vorzugaukeln. Umgekehrt reagiert die automatische Steuerung so, als würde sie tatsächlich mit einer realen Maschine kommunizieren. "Unsere Kunden, die Maschinenbauer, können neue Maschinen damit bereits in der Konstruktionsphase testen und verbessern – ein Riesenvorteil", betont Menzel. Siemens liefert mit dem Sinumerik Machine Simulator eine Art Software-Baukasten an den Konstrukteur. In diesem Fundus sind bereits viele Komponenten in virtueller Form enthalten, aus denen eine Maschine besteht, etwa Verzögerungsglieder, mit denen typischerweise der Vorschub von Werkzeugmaschinen beschrieben wird. Weitere Komponenten kann sich der Konstrukteur flexibel generieren und in einer Modellbibliothek wiederverwendbar ablegen. Aus diesen Elementen setzt er dann seinen Maschinenentwurf per "drag & drop" zusammen. Schritt für Schritt entsteht so ein virtuelles Abbild, das genau dem Verhalten einer geplanten Werkzeug- oder Produktionsmaschine entspricht, noch bevor sie in Hardware aufgebaut ist. Passen Mechanik und Software zusammen? Leistet die künftige Maschine genau das, was man von ihr fordert? Wie schnell kann sie bohren, fräsen oder hobeln oder in welcher Güte fertigt sie die gewünschten Teile? Gefahrlos lassen sich auch die Grenzbereiche austesten: Was passiert, wenn eine Sensorik versagt? Schlimmstenfalls geht eine virtuelle Maschine kaputt; dieser "Schaden" kann auf Tastendruck repariert werden. Thomas Menzel: "Die Investitionen in den Sinumerik Machine Simulator amortisieren sich für den Kunden schon in weniger als einem Jahr. Die Qualität seiner Werkzeug- und Produktionsmaschinen steigt.

Sie lassen sich wesentlich schneller in Betrieb nehmen und ausliefern." Das bestätigt auch einer seiner Hauptkunden: Bernd Zapf, Entwicklungsleiter der Heller Maschinenfabrik aus Nürtingen, einem der führenden Hersteller von Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen für die Automobilindustrie. Die bisher gesammelten Erfahrungen mit dem Maschinensimulator seien so positiv, sagt er, "dass in Zukunft jede neue Maschine von uns darauf simuliert wird."

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