Pictures of the Future
Zukunft der Fabriken – Workflow-Simulation
Heilung nach Plan
Im Schwerionen-Therapiezentrum in Heidelberg werden ab 2008 Tumor-Patienten behandelt. Eine Simulation von Siemens optimiert die Behandlungsabläufe – mit Know-how aus der Prozesssteuerung moderner Fabriken.
Schnell, präzise und schmerzlos, das ist für die Behandlung von Tumorpatienten wichtig. Ein neues Verfahren für die Partikeltherapie bringt große Vorteile für Patienten und Klinikpersonal, beispielsweise bei der millimetergenauen Lagerung des Patienten für eine präzise Bestrahlung. Ein Roboterarm bringt die Liege mit dem Patienten vor dem Strahlrohr in Position. Nach fünf Minuten ist die schmerzlose Behandlung vorbei. Bei der zweiten Bestrahlung wird der Patient deutlich entspannter sein.
Noch existiert dieses Szenario nur virtuell – in einer Simulation von Siemens Medical Solutions (Med) in Erlangen. Doch schon Anfang 2008 werden Patienten im neuen Schwerionen-Therapiezentrum an der Heidelberger Uniklinik behandelt. Sie leiden an Tumoren, die sich operativ nur schlecht oder mit hohem Risiko entfernen lassen, wie etwa einige Gehirntumore. In Heidelberg werden sie mit Kohlenstoff-Ionen – den nackten Atomkernen des Kohlenstoffs – aus einem Teilchenbeschleuniger beschossen. Diese extrem schnellen Partikel dringen in den Körper des Patienten ein und zerstören punktgenau die Geschwulst, ohne das umliegende Gewebe stark zu schädigen (siehe Pictures of the Future, Frühjahr 2004, Partikeltherapie).
Entwickelt und getestet wurde das Verfahren von der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt. Weil deren Auftrag aber die Grundlagenforschung, nicht jedoch die Kommerzialisierung ist, suchte die GSI einen Industriepartner – und fand ihn mit Siemens. Das Unternehmen erwarb 2003 von der GSI und dem Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg wichtige Patente zur Schwerionen-Therapie und brachte die Methode mit hohem Aufwand zur Marktreife. Für das Heidelberger Zentrum liefert Siemens die komplette Technik rund um den Patienten, wie die patientennahe Strahlführung, die Patientenlagerung und die Behandlungssteuerung – "alles was am Ende des Beschleunigers hängt", sagt Klaus Staab, Projektleiter des Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrums, der die enge Kooperation mit Siemens begrüßt. Bei einem weiteren Therapiezentrum, dem Rhön-Klinikum in Marburg, für das im August 2007 der erste Spatenstich erfolgte, kommt sogar alles – bis auf das Gebäude – von Siemens, also auch der Teilchenbeschleuniger.
Neuland Klinikalltag. Dass die neue Therapie physikalisch und medizinisch funktioniert, haben die Forscher der GSI bereits an Patienten bewiesen – "aber wie die Ausgestaltung der Behandlungsschritte die Leistungsfähigkeit des Zentrums beeinflusst, dazu gibt es noch keine Erfahrungen", sagt Thomas Lepel von Siemens Corporate Technology (CT). Im Klinikalltag ist die Teilchentherapie völliges Neuland. Daher haben Lepel und seine Kollegen die Behandlungsprozesse – also den gesamten Workflow – in einem Simulationsmodell abgebildet. Damit können auch die Wirkungen von kundenspezifischen Anforderungen auf den Patientendurchsatz analysiert werden.
Denn der entscheidet darüber, ob sich die Anlage lohnt. In Heidelberg, wo der Behandlungsablauf nicht komplett dem von Siemens optimierten Weg entspricht, rechnet man mit etwa 1 300 Patienten pro Jahr. Die Anlage wird zur Hälfte von Land und Bund finanziert. Eine Klinik, die sich vollständig privat trägt, muss aber in der Regel mindestens 2 000 Patienten pro Jahr behandeln, damit sich die gut 100 Mio. € für die Bestrahlungsanlage plus die, je nach Ausstattung, etwa 50 Mio. € fürs Gebäude lohnen – vorausgesetzt, die Krankenkassen zahlen auch künftig die etwa 20 000 € pro Patient, die sie mit der Heidelberger Klinik vereinbart haben. Zum Vergleich: Für eine herkömmliche Strahlentherapie zahlen die Kassen nur 8 000 €. Doch die höheren Kosten scheinen vertretbar – angesichts der Gesamtkosten einer Krebsbehandlung, die Chirurgie, Chemotherapie und Strahlentherapie einrechnet und damit teilweise auf über 100 000 € pro Fall kommt.
Außerdem scheint die Rückfallquote mit dem neuen Verfahren bei einigen Tumoren wesentlich geringer zu sein, wie klinische Studien gezeigt haben. Für Dr. Konstanze Gunzert-Marx, Vertriebsdirektorin bei Siemens Med in Erlangen, ist die Partikeltherapie ein Erfolgsmodell: "Wenn man die Zahl der Neuerkrankungen hochrechnet, lohnt sich ein solches Zentrum für ein Einzugsgebiet mit acht bis zehn Millionen Bewohnern."
Simulation des Therapieverlaufs. Das zeigt auch der Businessplan, in den die Investitions- und Betriebskosten sowie die Rückerstattung der Kassen einfließen. Um die Rentabilität zu kalkulieren, wird der Patientendurchfluss simuliert und teilweise automatisch optimiert. "Im Prinzip nutzen wir dabei unser Know-how aus der Analyse von Produktionsprozessen", sagt Lepel. "Wie es in der Fabrik unterschiedlich zu behandelnde Einheiten gibt, so gibt es auch im Klinikbetrieb unterschiedliche Arbeitsabläufe." Die Simulation unterscheidet zum Beispiel nach Tumorarten und berücksichtigt die unterschiedlichen Vorbereitungszeiten.
Der leidende Patient als Teil eines Arbeitsablaufs – das klingt kalt und herzlos. Doch aus der Simulation haben die Siemens-Entwickler eine Behandlungssteuerung entwickelt, die den Workflow nicht nur nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten optimiert. "Eine Stärke unserer Steuerung ist es gerade, dass Ärzte und Klinikpersonal mehr Zeit für die Patienten haben", betont Gunzert-Marx. Der Arzt müsse sich nicht um den Ionenstrahl im Beschleuniger kümmern, sondern allein um den Patienten.
Der wird zwar als Teil des Workflows simuliert, aber als Mensch behandelt. Beispiel: Vor jedem der drei Bestrahlungsräume liegt ein Raum, in dem ein Patient zur Behandlung vorbereitet und auf einer Liege immobilisiert wird, während im Behandlungsraum bereits ein anderer bestrahlt wird. Der ausgeklügelte Schedule Optimizer von Siemens, gefüttert mit den Patientendaten aus einem Onkologie-Informationssystem, optimiert nicht nur die Belegung der Räume und die möglichst unterbrechungsfreie Nutzung des Ionenstrahls – und damit die Kosten –, sondern verkürzt auch die Wartezeit.
Ist etwa absehbar, dass die Vorbereitung eines Patienten länger als geplant dauert, kann ein anderer Patient rechtzeitig informiert und dessen Behandlung vorgezogen werden. Vorbereitung und Behandlung greifen nahtlos ineinander und verkürzen den gesamten Prozess für den Patienten auf unter 30 Minuten. Dabei können mit einer Konfiguration aus drei bis vier Behandlungsräumen die Patienten am besten und schnellsten behandelt werden, wie Lepels Simulation gezeigt hat.
Effizienter Robotereinsatz. Eine Fabrik kann nur effizient arbeiten, wenn die Arbeitsabläufe ineinander greifen. Das ist auch in der Klinik so. Deshalb hat Siemens Med eine Hightech-Liege aus Carbonfasern entwickelt, die sowohl für die Behandlungsplanung am Computertomographen als auch für die Behandlung selbst geeignet ist. Ein Roboterarm ergreift die Liege mit dem fixierten Patienten und fährt sie automatisch in die richtige Position. Nur so ist es möglich, die Vorbereitung außerhalb des Bestrahlungsraums vorzunehmen. Zudem passt das Patientenlagerungs-System auch in die Computertomographen der Klinik, die Behandlungsplanung wird damit erleichtert und präzisiert. Diese Entwicklung ist auch für herkömmliche Bestrahlungs- und Diagnoseeinrichtungen nützlich, denn immer mehr Kliniken verlangen bei Ausschreibungen solche Patientenlagerungs- und Transport-Systeme.
Ihr Know-how über die Arbeitsprozesse haben die Erlanger Entwickler vor allem durch Gespräche mit Kunden erworben, also Ärzten und Verwaltungen in Kliniken. So besuchten Med-Mitarbeiter das Harvard Medical Cyclotron in Boston oder das Midwest Proton Radiotherapy Institute in Bloomington, Indiana – immer mit derselben Frage: Was brauchen Ärzte und Patienten wirklich? Dabei stellte sich heraus, dass die Simulation der CT-Kollegen schon ziemlich nahe an der Realität war.
"Bei der Betrachtung des Gesamtsystems und der Analyse des Workflows hat Siemens mehrere Jahre Vorsprung", sagt Konstanze Gunzert-Marx. Zwar bemühten sich nun auch andere Anbieter, ähnliche Komponenten und einen integrierten Arbeitsablauf zur Partikelbestrahlung zu entwickeln, doch keiner biete diese Flexibilität, auch in Kombination mit bildgebenden Verfahren und der IT-Integration. So wurde das Siemens-System – weltweit einzigartig – von vornherein auf mehrere Ionen-Sorten ausgelegt. Neben Kohlenstoff können im Heidelberger Zentrum auch Sauerstoff-Ionen oder Protonen, die Kerne des Wasserstoffs, in einer Anlage abwechselnd eingesetzt werden. Das überzeugt auch Investoren in aller Welt. In den nächsten Jahren sollen weitere Partikeltherapiezentren entstehen.
Bernd Müller
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