Thursday, February 12, 2009

Vom Nutzen der Vergängnis und des Zufalls

200 Jahre Darwin

Vom Nutzen der Vergängnis und des Zufalls

Von Hubert Markl

Charles Robert Darwin auf einem Gemälde von M. B. Messer aus dem Jahr 1912

Charles Robert Darwin auf einem Gemälde von M. B. Messer aus dem Jahr 1912

12. Februar 2009 Man fragt mich manchmal, ob ich Darwinist sei. Einerseits ist das, als wolle man wissen, ob ich Biologe sei. Natürlich bin ich das! Aber andererseits behauptet man doch auch nicht, dass jemand, der begriffen hat, dass die Erde um die Sonne kreist, ein Kopernizist sei. Wer an die Wiedergeburt glaubt, mag ja Hinduist oder Buddhist sein, und wer jedes Wort in der Bibel oder im Koran ernst nimmt, ein Fundamentalist.

Aber Darwinist? Sowenig ich Nationalist bin oder Militarist oder Rassist, so wenig fühle ich mich als Darwinist. Wer in dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx viel Sinn findet, ist noch lange kein Marxist, und selbst ein Ex-Max-Planck-Präsident ist doch kein Planckist, wenn er davon überzeugt ist, dass Energie in Quanten auftritt.

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Was macht also die Einsicht in die Evolution der Organismen aus? Es sind vor allem fünf Tatsachen, die sich alle empirisch überprüfen oder widerlegen lassen und deren logische Zusammenhänge sonnenklar sind und die Theorie doch alles andere als tautologisch wahr machen, wie jene behaupten, die Herbert Spencers Slogan "Survival of the Fittest" als "Survivor of the Survivors" missverstehen wollen.

I. Erblichkeit

Wir finden empirisch Erblichkeit bei allen Lebewesen (und nur bei ihnen, wohlgemerkt, nicht bei Kristallen oder Geistern, die pflanzen sich nämlich nicht fort!): Alle Nachkommen ähneln aufgrund genetischer Faktoren in vielen Kennzeichen ihren Eltern - selbst wenn sie diese nie kennengelernt haben, was bei den meisten Tieren und Pflanzen und manchen Leuten vorkommt.

Die Erbfaktoren werden bei sexueller Fortpflanzung diskret und zwischen beiden Eltern zufällig verteilt, was Darwin nicht wusste, der meinte, sie verschmölzen, was erstens zeigt, dass man falsche Erbvorstellungen haben und doch die Evolutionstheorie entdecken kann, und zweitens, dass Literaturkenntnis vor Entdeckungen schützt.

Diese Erbfaktoren wurden später als relativ einfache chemische Polymere, als Nukleinsäuren, erkannt und noch später total bis zum letzten Atom sequenziert. Aber es blieb dennoch bis heute meist unklar, wie der genaue chemische Weg vom Gen zum Merkmal führt, zum Bienentanz oder Krabbenwinken etwa, oder von vielen Genen zu komplexen Gestalten oder zur Intelligenz.

II. Variation

Der zweite Evolutionsfaktor ist erbliche Variation, die Mutation oder der Erbwandel, der zwar dem ersten Faktor zu widersprechen scheint, aber nur selten: 10 hoch -3 wäre eine häufige, 10 hoch -6 eine übliche, 10 hoch -10 eine seltene Mutation. Die Vererbbarkeit der Veränderungen ist dabei wesentlich. Lebewesen zeigen natürlich mannigfache Modifikationen, die sie aber nicht an ihre Nachkommen weitergeben können, selbst wenn sie diese darüber belehren oder dazu zwingen wollten.

Nur erbliche Variationen verändern die genetische Zusammensetzung der Population, in der sie aufgetreten sind und wo sie sich in der Umwelt bewähren können. Aber leider treten dabei Varianten nicht häufiger auf, die zu einer gegebenen Umwelt besonders gut passen, unter deren Einfluss sie entstanden sind: ihre Ausrichtung ist zufällig, mal schädlich, mal nützlich, mal keines von beidem.

Inzwischen wissen wir zwar, dass im Erbgut durch Umweltbedingungen abrufbare Gene vorliegen können - allerdings nur solche, die zufällig dort hineingeraten und unter gegebenen Bedingungen erhalten worden sind, weil sie sich als nützlich erwiesen. Man kann sie nur anschalten, wenn sie da sind. Natürliche oder künstliche Mutationsursachen - etwa UV-Strahlen - können zwar weniger oder mehr Mutationen hervorrufen, aber das macht sie deshalb nicht lichtresistenter, nur einige davon möglicherweise. Ebenso verständlich ist, dass neue Mutationen in einem vorgegebenen komplexen Gengefüge eher Schaden als Vorteil bringen: ein eingespieltes Team wird eben nur selten zufällig besser.

III. Streben nach Dasein

Zum Dritten bemerkten Darwin und Wallace - wie andere, beispielsweise Thomas Malthus, vor ihnen -, dass von allen Lebewesen ausnahmslos im Durchschnitt mehr Nachkommen erzeugt werden, als zur Geschlechtsreife heranwachsen können und sich selbst wieder fortpflanzen. Man spricht von einer - oft exponentiellen - Überproduktion, die bei einem Karpfen mit Millionen Eiern mehr auffällt als bei Leuten mit vier Kindern: Aber aus zwei werden vier, aus vier acht, wenn sie denn alle überleben.

Es mag sich auf der Zeitachse unterscheiden, was etwa Pflanzen mit Zigtausenden von Samen oder Elefanten mit wenigen Nachkommen bewirken können, wenn man es zulässt, aber nur jene Lebewesen, die wenigstens etwas oder viel mehr von ihresgleichen in das Wettlaufen um die nächste Generation entlassen, können sich gegenüber Wettbewerbern durchsetzen.

Wäre der Lebensraum unbegrenzt und wären die benötigten Ressourcen unerschöpflich, gäbe es schließlich auch keine Fressfeinde und Krankheitserreger, so hinge es nur davon ab, wer mehr Nachkommen erzeugen kann, um zu obsiegen. Aber so ist die Lebenswelt nicht: Sie ist eher beengt, bietet begrenzte Versorgungsgüter und Fortpflanzungspartner, wimmelt von Feinden und anderen Ausbeutern: Da bleiben nur die übrig, die - zufällig oder eben aufgrund überlegener Erbeigenschaften - eine höhere reproduktive Fitness vorweisen und selbst wieder mehr Junge erzeugen können, als vorher Alte da waren. Nur zufällig besessene Neuerungen erlauben, sich Vorteile zu verschaffen: solange Konkurrenten und Umwelt gleich bleiben, auf Zeit also nur, im fortwährenden "struggle for life" - nicht "fight for life" -, im Sichbemühen ums Dasein, das nur unzureichend als "Kampf ums Dasein" übersetzt wurde.

IV. Selektion und Anpassung

Daraus folgt zwingend viertens, dass die Umwelt immer unter den Lebewesen auswählt, es findet also eine Selektion statt, von Anbeginn ihrer Entstehung aus Ei- und Samenzellen an, denn der Same, der das Ei nicht befruchtet, hat schon verloren. Selbst im Mutterleib wirken Hormone und Immunbeziehungen auf Entwicklung und Reifung und nach der Geburt nicht anders, ein Leben lang: wann einer oder eine wie viele Nachkommen welcher Durchsetzungsfähigkeit erzeugt oder doch erst lieber weiter wächst, alles wird zur fitnessbestimmenden Entscheidung. Selbst wann Altern und Tod drohen. Keiner lebt in einem Vakuum, sondern stets in einer noch dazu sehr lebhaften Umwelt, in der es an Hemmnissen aller Art, Ernährungsmängeln, Fressfeinden, Parasiten, Wettbewerbern um alles, was knapp und nötig ist - etwa auch Fortpflanzungspartner -, nicht mangelt, während es von Problemen der Versorgung von einem selbst und eigenen Nachkommen nur so wimmelt.

Ein Wunder wirklich, dass es bei so vielen Möglichkeiten, die Umwelteignung zu verpassen, am Ende doch einige schaffen. Man heißt dies Anpassung. Kein Wunder aber ist es, dass Erbgut und Umweltverhältnisse immer zusammenwirken, um Anpassung zu erlangen. Selektion durch Lebensbedingungen richtet Lebewesen auf eine bestimmte Umwelt hin aus und ist somit der einzige richtende Faktor für den Pfeil der Evolution. Aber wohlgemerkt: Der muss dabei gar nicht immer nach oben fliegen, zu größerer Leistung und Komplexität.

Was wir "besser adaptiert" nennen, mag genauso ein Männchen sein, das als Parasit an seinem Weibchen hängt. Solange es mehr seiner Erbanlagen in die nächste Population entsenden kann als seine Konkurrenten, ist es "besser", so armselig es auch aussehen mag. Zwar mag man den Eindruck haben, die Pflanzen und Tiere wandelten auf dem Pfad optimierender Evolution zu zunehmender Komplexität, Größe, Lebenszeit, Sozialität und Überlegenheit. Aber während sie dies tun, öffnen sich die Nischen für die kleinen, schnell evoluierenden, asexuellen, einzellebenden Nutzer und Schmarotzer und geben ihnen neue Möglichkeiten zum Dasein.

Während die einen ans Licht drängen und sich umsehen, überlassen sie anderen das Dunkel; und während die einen durch soziale Gemeinschaft und Bildung von Superorganismen überlegen sind, beuten die anderen deren Schätze aus. Die Natur kennt keinen optimalen Einheitsorganismus, nur viele, die ihre Fähigkeiten optimieren und dabei auf gegebene Zeit und an gegebenem Ort erfolgreich sind, bis bessere Wettbewerber antreten. Sie belohnt zwar den Fortschritt, aber lässt ihn für das Erfolgreichere erbarmungslos fallen, wenn sich neue Lebewesen als fortpflanzungsfähiger erweisen. Die allermeisten Spezies sind so dahingegangen, damit andere, augenblicklich, aber nie dauerhaft überlegene dafür überlebten.

V. Sterblichkeit

Dies lenkt den Blick auf den fünften Evolutionsfaktor, der meist übergangen wird: die Sterblichkeit aller Lebewesen, ihr metastabiler kurzer oder längerer Tanz auf dem Unbelebten, in das sie zurückkehren müssen. Es ist uns so vertraut, dass alles, was lebt, vergehen muss, dass wir manchmal ganz darauf vergessen, wie viel die Evolution des Lebens dem Tod verdankt. Gäbe es unsterbliche Lebewesen, die immer gleich bleiben, so müssten sie nach Füllung aller Lebensräume die Vermehrung einstellen. Sie dürften weder durch Unfälle noch durch Feinde oder Krankheiten gefährdet sein, sie ständen wie tote Bäume in der Landschaft, und wenn sich ihre Umwelt ändert, was sie ständig tut, oder wenn ein neuer Wettbewerber aufträte, so wären sie hilflos zu Niedergang und Vernichtung verdammt. Sie könnten sich nicht durch Anpassungsfähigkeit wehren.

Deshalb kommt es in der Evolution niemals allein auf augenblickliche Adaptation, sondern auf Adaptibilität, auf Veränderungsfähigkeit an, die an der gewonnenen Anpassung, so lange wie sie nützlich ist, festhält, nicht länger. Und deshalb ist Sterblichkeit ein Jungbrunnen der Evolution durch Mutation und Selektion. Sie können den Lebenszyklus kürzen oder verlängern, aber nicht abschaffen. Der Tod wird genauso vererbt wie das Leben. Er gehört genauso zur Evolution wie die Geburt des Neuen.

VI. Kulturelle Evolution

Dies ist eigentlich eine überaus einfach zu verstehende und zu überprüfende Theorie, doch mit vielen schwierigen Möglichkeiten diversifizierender Entwicklungen, Verästelungen und Nebenfolgen, die den unfassbaren Reichtum des Lebendigen, der Darwin, Wallace und so viele andere so faszinierte, zustande kommen lässt. Einerseits ist sie so einfach, dass jeder sie verstehen kann, der die Augen aufmacht - daher ist sie auch so schwer zu widerlegen, aber so leicht abzulehnen -, so dass sie manchmal sogar als tautologisch wahr missverstanden werden kann.

So wie man aus zwei Dutzend Buchstaben unbegrenzt viele Worte machen kann und aus ihnen nach wenigen syntaktischen Regeln alle Texte, die der Mensch erfinden kann, so unerschöpflich ist die DNA. Dies bringt mich zum zweiten Teil meines Themas. Die Prinzipien der Evolution gelten nämlich - was Darwin bewusst war, weshalb er sich gar nicht von Menschen fernhalten konnte - im ganzen Reich des Lebendigen, auch in der Kultur.

Betrachten wir zuerst den Evolutionsweg zum Menschen, dem Tier mit Kultur. Es stimmt, was die Verhaltensbiologen immer wieder feststellten: Alle Tiere lernen und entscheiden sich, manche - etwa bei Vögeln und Säugetieren - geben Erlerntes auch an Artgenossen weiter, beweisen somit also Kultur, aber was sind dies für Spuren gegenüber der menschlichen, der wirklichen Kultur! Man könnte es fast eine Unart von Biologen nennen, solche Ansätze und Vorstufen mit vollentwickelten Leistungen gleichzusetzen, nur weil sie daraus entstanden sein können. Das mag oft zutreffen, aber der Umschlag von Quantität in neue Qualitäten wird dabei oft übersehen. Deshalb reden Biologen und Kulturwissenschaftler so oft aneinander vorbei.

Biologen, mit ihrem Blick von unten, versuchen seit langem geradezu krampfhaft zu beweisen, dass manche Gene auch normales, nicht nur pathologisches menschliches Verhalten beeinflussen. Leider wird dabei oft vergessen, dass genetische Beeinflussung einer Entwicklung noch lange nicht deren Vorbestimmung bedeutet, sondern eine Disposition, die eben von null bis einhundert Prozent reichen kann, je nach Umwelteinflüssen. Gene geben sozusagen vor allem den Spielraum der Merkmalsverwirklichung vor.

Außerdem sollten wir froh darüber sein, dass gerade aufgrund genetischer Unterschiede die ganze Menschenpopulation nicht aus lauter asexuell geklonten identischen Wesen besteht, sondern nach Größe, Farbe, Neigungen und Begabungen, vor allem aber auch nach dem Geschlecht recht verschieden sind. Denn unsere Leistungsfähigkeit beruht auf dieser genetischen Vielfalt der Menschen. Erst sie schafft die Voraussetzung für arbeitsteilige Zusammenarbeit. Wo also ist das Problem mit den Genen?

VII. Die Natur der Kultur

Vielleicht haben Biologen auch vergessen zu fragen, was denn überhaupt die Natürlichkeit unserer Menschlichkeit vor allem ausmacht. Vielleicht bellten sie gar zu lange am Stammbaum empor, in der Meinung, wir säßen immer noch da oben? Vielleicht vergaßen sie zu fragen, wieso gerade der weitgehende Verzicht auf genetische Feinsteuerung des Verhaltens gerade unsere Spezies so stupend erfolgreich machte? Lohnt es gerade bei der Suche nach der biologischen Menschwerdung nicht vor allem nach den Grundlagen unserer Kulturfähigkeit zu suchen? Vielleicht, weil der Mensch zwar natürlich evoluierte, aber sich vor allem als Kulturwesen entfalten konnte?

Gerade die angebliche "Natur" erweist sich dann oft als Kultur. Ein Beispiel hierfür bietet der Rassismus, insbesondere der Antisemitismus. Reinste Kultur: denn ein Jude ist eben Jude, weil er die jüdische Religion glaubt, als orthodoxer Jude vielleicht für allein richtig hält, oder weil er von Juden abstammt, die dies glaubten, oder weil er Bürger Israels ist. Also aus ganz und gar kulturellen Gründen. Denn obwohl jüdische Heiratsvorschriften einiges dafür taten, auch abstammungsmäßig - also genetisch - ein Volk zu bleiben, sind Juden doch genetisch von Nachbarvölkern viel weniger unterschieden, als der Rassismus dies immer behauptet hat, kulturell aber sehr wohl.

Es gibt natürlich äußerliche, genetisch bedingte Unterschiede zwischen den Menschen. Männer sehen biologisch schon anders aus als Frauen, dem Schöpfer oder der Evolution sei Dank. Sozialdarwinismus aber ist eine kulturelle "Errungenschaft" - mit missbrauchten biologischen Argumenten, selbst wenn diese von Naturwissenschaftlern vorgebracht werden. Man sollte niemals vergessen, dass auch Wissenschaft zuerst einmal Kultur ist, vielleicht in ihrer reinsten Form: Wissenskultur. Aus ihren Vertretern spricht daher nicht die Natur selbst, sondern ihre Meinungen über die Natur.

Erblichkeit: Lernen und Lehren gewährleisten genauso die Herstellung und Vervielfältigung identischer Produkte einer Kultur, wie die Gene dafür in der Natur sorgten. Während in der Letzteren sexuelle Fortpflanzung für deren Vermischung sorgt, tut das der soziale Umgang mit den Erzeugnissen einer Kultur: Er erhält und verwandelt sie zugleich, reproduziert die Muster, ohne sie starr festzulegen. Wie in der Natur daraus die Vielfalt der Lebewesen wird, erzeugen Kulturen unendliche Abwandlungen: an Sprachen und Völkern, an Artefakten und Produkten: Wie der Erbwandel sorgt Kulturwandel dafür. Aber Überproduktion ist geradezu das Zeichen menschlicher Lebensverwirklichung, angetrieben von dem Wunsch, durch möglichst vielfältige Produktion und Tausch Reichtümer anzuhäufen: Kulturelle Fitness, in Geldwert gemessen, gleicht der reproduktiven, genetischen Fitness allein dadurch, dass sie in sich kein Maß hat, nur die Wettbewerbsgrenzen, an die beide stoßen - oder auch nicht, was beide gefährden kann.

In der Selektion erweist sich die Triebfeder der Entstehung alles Neuen, die wir Innovationen nennen. Erst indem es sich als tauglicher erweist als das vergleichbare Angebot, kommt es zu seiner Durchsetzung. Aber seien wir vorsichtig: Die wählerische Umwelt entscheidet über den Wert, nicht seine innere Qualität. Deshalb wird nicht nur das Nützliche vermehrt, sondern auch das Unnütze, wenn es gewählt wird. Selektion belohnt nur den Erfolg bei einem Empfänger: Ihm bleibt unbenommen, nach welchen Kriterien er wählt. Erst kulturelle Einsicht kann die Wahl nach anderen Gesichtspunkten als der "fitness" treffen. Weshalb der Wahlfreiheit auf allen Gebieten so große Bedeutung zukommt, die der Mensch nicht leichthin in Frage stellen sollte, es sei denn er wollte auf das Niveau natürlicher Evolution zurückfallen.

Vergänglichkeit bedroht jede Kultur, jede Sprache, jedes Volk, jeden Stil und alle seine Artefakte früher oder später. Wer Nachhaltigkeit als Festhalten an gegebenen Verhältnissen wünschte, statt Entwicklungsfähigkeit darunter zu verstehen, verdammte in Kultur wie Natur jeden Erfolg zum Untergang. Darin liegt allerdings Weisheit: So schmerzhaft auch der Verlust des Gewohnten, so ermunternd die Aussicht auf Neues, wo es sich ereignet. Nicht Adaptation allein, sondern Adaptabilität fördert das Fortleben.

Es gibt selten, aber immer wieder, Menschen, deren Einsichten in die Wirklichkeit ihren Zeitgeist, vielleicht den Zeitgeist für immer prägen und noch nachwirken, wenn sie schon lange vergangen sind. Wir mögen an Newton denken, an Einstein, Freud vielleicht, Mozart gewiss, Montesquieu oder Leonardo, Christus oder Marx. Darwin gehört sicher dazu. Nach ihm können wir weder Natur noch Kultur anders betrachten als in ihrer Evolution. Wegsehen hilft nichts, nur Hinblicken. "Theories will go, facts will stand", so stellte Darwin fest. Neue Tatsachen zu erblicken und sie uns zu zeigen, das war sein Werk. Die Evolution, die er als Erster in ihrer ganzen Tragweite begriff, erklärt die schöpferische Freiheit von Natur und Kultur zugleich.

Hubert Markl lehrte bis zu seiner Emeritierung 1997 Biologie an der Universität Konstanz. Er war Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft.



Text: F.A.Z.
Bildmaterial: dpa