Pressefoto des Jahres
Zeugnis eines geplatzten Traums
Von Susanne Amann
Mit einem einzigen Bild hat US-Fotograf Anthony Suau das Ausmaß der Immobilienkrise eingefangen. Das Pressefoto des Jahres zeigt: Bei der Hypothekenkrise geht es nicht abstrakt um Konjunkturpakete und milliardenschwere Bankenrettung. Es geht um Menschen, denen die Lebensgrundlage wegbricht.
PRESSEFOTO DES JAHRES
Hamburg - Er war überall, wo Menschen foltern und sich gegenseitig umbringen, wo sie gegen ein korruptes Regime kämpfen, überfallen werden oder einfach nur mehr Freiheit wollen: Der amerikanische Fotograf Anthony Suau hat preisgekrönte Reportagen über die Krisen in Eritrea, Äthiopien, Kamerun, Ruanda und Tschetschenien gemacht. Er ist bekannt für seine furchtlosen Einsätze in den größten Krisengebieten dieser Erde, zumeist zeigt er die Menschen hinter den Katastrophen.
Jetzt hat er sich Cuyahoga County in Cleveland, Ohio, vorgenommen. Auch dort, im Nordosten der USA, befindet sich ein Krisengebiet, auch dort herrscht Katastrophenstimmung.
Suau hat einen Polizisten beim Einsatz fotografiert. Einen konzentrierten, fast kahlköpfigen Mann in Uniform, der in einem zerstörten Raum in schussbereiter Haltung steht. Er hat den Beamten aus Ohio zu einem Sinnbild werden lassen für den Wahnsinn, der seit Monaten die Menschen in den Vereinigten Staaten trifft: die Zwangsversteigerung ihrer Häuser, der Rauswurf aus dem eigenen Heim.
"Ninja-Loans" werden zum Verhängnis
Denn der Polizist ist kein Mitglied einer Spezialeinheit, der nach verschanzten Terroristen sucht - auch wenn das Bild das durchaus nahelegt. Er ist ein normaler Bezirksbeamter, der ein Haus nach der Zwangsräumung inspiziert, nach Waffen und Menschen sucht, die sich womöglich noch in den Räumen aufhalten. Das Bild ist zum Pressefoto des Jahres gekürt worden. Es sehe aus wie eine klassische Krisen- oder Kriegsfotografie, "aber es ist einfach nur die Zwangsräumung von Menschen, denen ihr Kredit gekündigt worden ist", sagte denn auch die Jury-Vorsitzende MaryAnne Golon in der Begründung für den Preis.
Ein eigentlich banaler Vorgang also - der Millionen von Menschen betrifft. Denn hinter dem großen Krisengejammer der vergangenen Monate, hinter den Börsenabstürzen und den Bankenpleiten, hinter Konjunkturpaketen und Derivate-Diskussionen sind die in Vergessenheit geraten, die am Anfang der Krise standen: die insolventen Hausbesitzer der USA, die wenige Jahre lang vom großen Glück des Eigenheims träumten und jetzt hart auf dem Boden der amerikanischen Unterschichtsrealität gelandet sind.
"Ninja-Loans" wurden sie genannt: Kredite, die an Menschen vergeben wurden, die "No income, no job or asset" hatten, also weder über einen Job, ein verfügbares Einkommen oder sonstige Vermögen verfügten. Weil aber der Kauf des eigenen Heims für US-Bürger so wichtig ist wie das eigene Auto, durften sie trotzdem kaufen: auf Pump - und zu höchst gefährlichen Kreditkonditionen. Ohne feste Zinssätze und mit Raten, die in einem unguten Verhältnis zum eigenen Monatseinkommen stehen. Wenn es das denn überhaupt gab.
2. Teil: Millionen Menschen verlieren ihre Häuser
Die Blase aus faulen Krediten und verramschten Kreditpaketen aber platzt im Sommer des vergangenen Jahres - und erschüttert die Welt in einem Ausmaß, das die Experten bis heute erstaunt. Renommierte Geldhäuser wie Lehman Brothers und Merrill Lynch gehen pleite oder müssen in letzter Minute durch einen Notverkauf gerettet werden. Es beginnt eine Talfahrt der weltweiten Börsen, die innerhalb weniger Tage Vermögenswerte um bis zu 70 Prozent verringert. Traditionskonzerne wie die amerikanischen Autohersteller General Motors oder Ford betteln um Milliardenhilfen vom Staat, die Arbeitslosenzahlen schnellen nach oben, die Wachstumsraten brechen ein - und die Welt diskutiert über Protektionismus und Milliarden-Boni, die unbeeindruckte Banker immer noch für angebracht halten.
Weit ab von den Geld- und Machtzentren in New York und Washington aber haben die Menschen ganz andere Sorgen: Im August erreicht die Zahl der Zwangsversteigerungen in den USA ein nie gekanntes Rekordhoch von 303.000, im gesamten Jahr 2008 mussten 880.000 Menschen ihre Häuser verlassen - meist innerhalb weniger Tage. In diesem Jahr, so schätzt der Branchendienst Realtytrac, werden es bis zu einer Millionen Häuser sein, die unter den Hammer kommen.
Der Ablauf ist immer der Gleiche: Weil die Zinsen steigen, verteuern sich die Raten und die Gläubiger kommen in Verzug. Und wer in Verzug kommt, verliert bald den Anspruch auf sein Haus - das oft nicht mal mehr die Hälfte des ursprünglichen Kredits wert ist. Denn die Häuserpreise befinden sich seit Monaten im freien Fall, das Ende ist nicht absehbar. Weil die Amerikaner eine Sparquote knapp oberhalb der Nullgrenze haben, verfügen die wenigsten über Rücklagen, mit denen sie ihre Kredite noch bedienen könnten.
Während die Banker der Wall Street ihren verlorenen Geschäftsmodellen nachtrauern und der neue Präsident Barack Obama in hastiger Eile Milliardenpakete schnürt, kämpfen die Menschen in Kalifornien, Texas, Orlando und anderen Staaten mit der Frage, wo sie künftig schlafen sollen. Sie kampieren auf Zeltplätzen und in Garagen oder sie ziehen ins Obdachlosen-Asyl. Familien, die kurz vor dem Sprung in die Mittelschicht standen, oft Migranten, die davon träumten, im richtigen Amerika anzukommen. Die Kredit- und Immobilienkrise ist für viele eine Wirtschafts- und Überlebenskrise geworden.
Es haben sich absurde Rituale gebildet: Es gibt Menschen, die sich im Internet detaillierte Landkarten anschauen, die zeigen, wo wie viele Häuser gerade zwangsversteigert werden. Es gibt verzweifelte Verkäufer, die ihr Haus als Gewinn einer Lotterie anbieten, damit sie wenigstens noch ein bisschen Geld erhalten. Es gibt pragmatische Immobilienverkäufer, die Bustouren durch zwangsversteigerte Häuser anbieten.
Und es gibt die hilflos Wütenden, die vor dem Verlassen ihrer Wohnung wild um sich schlagen. Die nichts übrig lassen wollen, wenn schon für sie nichts übrig bleibt. Die alles vernichten, was von ihrem alten Leben zeugt. Deren Elend, deren Verzweiflung und deren Hoffnungslosigkeit hat der Fotograf Suau in einem einzigen, großartigen Bild eingefangen.